Eine leere Rolle Klopapier am Halter

Systemrelevante Verwaltungslogik

Vorgestern musste ich erfahren, dass ich nicht systemrelevant bin. Das hat mich stark getroffen, da ich mich aufgrund meines kompetenten Gesichtsausdrucks vollkommen anders fühle. Laut hessischer Landesregierung sind Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe im Gegensatz zu denen der Behindertenhilfe nicht systemrelevant. Das heißt die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Wohnungslosenhilfe können die Notbetreuungen für Kinder in den Schulen im Rahmen der Corona Krise nicht in Anspruch nehmen. Wenn man es positiv sieht (und ich habe mir angewöhnt Dinge möglichst positiv zu betrachten) ist es schön, dass die Betreuung von behinderten Menschen mittlerweile einen großen Stellenwert erhalten hat und mit der Arbeit von medizinischem Personal, Feuerwehr und Polizei in einem Zug genannt wird. Mein Arbeitgeber betreut wohnungslose sowie psychisch erkrankte Menschen. Das tut er in einer Vielzahl von Einrichtungen. Die Grenzen zwischen wohnungslos und psychisch erkrankt sind oft fließend. Es gibt sogar Wohnheime, die bieten Plätze im Rahmen der Eingliederungshilfe und der Wohnungslosenhilfe gleichzeitig Plätze an. In der Praxis bedeutet das, dass Plätze für wohnungslose psychisch kranke Menschen mit Diagnose nach Eingliederungshilfe finanziert werden und Plätze für wohnungslose psychisch kranke Menschen ohne Diagnose nach Wohnungslosenhilfe finanziert werden. Die Problemlagen und der Betreuungsaufwand sind bei beiden Gruppen ähnlich, die finanzielle Ausstattung nicht. Es ist sogar eher so, dass die Menschen, die sich einer Diagnose und Therapie verweigern mehr Aufwand für das Umfeld bedeuten. Die machen halt mehr verrückte Sachen. Sie kommen dann in Einrichtungen, die finanziell am schlechtesten ausgestattet sind. Das folgt einer Verwaltungslogik und ist total unlogisch. In den Frankfurter Notübernachtungsstätten mit den geringsten Personalschlüsseln lebt eine Vielzahl schwersterkrankter Menschen. Selbst schuld wiehert da der Verwaltungshengst. Die könnten doch Hilfe beantragen. Zehnseitige Formulare in schönsten verwaltungsdeutsch abgefasst. So ein Paranoiker hat es aber in der Regel nicht so mit seitenlangen Datenschutzerklärungen. Dann ist er von Amtswegen nicht krank und seine Betreuung ist billiger.

Da ich ja alles positiv sehen wollte, freue ich mich, dass mein Arbeitsplatz durch diesen Konstruktionsfehler auf ewig gesichert ist. Auf ewig darf ich Übersetzer zwischen Mensch und Amt sein. Manchmal beschleicht mich der Eindruck, dass ich gar nicht so wichtig bin. Man kann mit und ohne meine Hilfe an der Verwaltung scheitern. Aber es ist ja nicht nur die böse Verwaltung. Jeder Mensch hat schließlich auch einen eigenen Willen und das Recht verrückt zu sein. Ein gutes Hilfesystem sollte allerdings dafür sorgen, dass kranke Menschen die Möglichkeit haben zu entscheiden. Das heißt Suchtkranken muss die Möglichkeit eines Entzuges gegeben werden und psychisch Kranke müssen bei Eigen- oder Fremdgefährdung zeitweise zwangstherapiert werden, bis sie in einem Zustand sind, in dem sie über ihre Zukunft selbst entscheiden können. Wer dann trotzdem weiter Suchtmittel nehmen möchte oder verrückte Sachen tun will, den kann niemand davon abhalten. Da immer mehr wohnungslose Menschen keine Krankenversicherung haben ist die Therapie nicht für alle gewährleistet.

In Finnland haben sie mit einem neuen Konzept namens housing first angeblich die Obdachlosigkeit fast beseitigt.  Wer wohnt ist nicht obdachlos. Die Hilfeziele orientieren sich nicht an der Erziehung der Obdachlosen und der Wiederherstellung ihrer Leistungsfähigkeit, sondern an der Bewältigung ihres Lebens als Wohnende. Teure Wohnheimplätze, in die die ehemaligen Bewohner nach ihrem erneuten Scheitern immer wieder zurückkehren, wären überflüssig. Ein viel versprechender Ansatz.

Momentan ist unsere Arbeit virusbedingt eingeschränkt. Sprechstunden finden nur noch nach Terminvereinbarung statt und sämtliche Behörden sind geschlossen. Jobcenter sind wie immer nicht erreichbar. Wenigstens etwas Vertrautes in diesen ungewöhnlichen Zeiten. Ich plane heute einen Hausbesuch bei einem älteren Mann. Falls das mit dem Sicherheitsabstand von 1,5 Metern nicht praktikabel ist, werde ich wohl alle Hausbesuche einstellen müssen. Sollte das länger der Fall sein könnte sogar Kurzarbeit oder Versetzung in Notdienste ein Thema für mich werden. Falls ein Wohnheim unter Quarantäne gestellt wird, müssen die Bewohner beispielsweise mit allem lebensnotwendigen Dingen versorgt werden. Dafür werden dann Fahrer und Helfer gesucht. Interessant ist auch die Frage wohin wohnungslose Menschen bei einem Ausgangsverbot gehen sollen. Bitte jeder nur eine Brücke? Es sind schon merkwürdige und unsichere Zeiten. Im Internet ist schon von Massenpsychosen die Rede. Ich behalte mir eine Teilnahme daran vor.

Bleibt gesund

23 Kommentare zu „Systemrelevante Verwaltungslogik“

  1. Seltsam diese Einteilung hilfsbedürftiger Menschen in verschiedene Kategorien. Man kann ja wohl nicht wirklich sagen, dass Obdachlose an ihrer Situation selbst schuld sind. Und warum die Mitarbeiter in verschiedenen Hifsorganisationen verschiedene Ansprüche oder Nicht-Ansprüche auf die Betreuung ihrer Kinder haben, verstehe ich überhaupt nicht.

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  2. Ein tiefer Blick, wie von dir gewöhnt. Systemrelevant… Welch Schubladenkram Menschenhirnen einfällt und welche Blüten das in einer zivilisierten Gesellschaft treibt, das kann wirklich frustrieren und du bemühst dich stets, das Positive dran zu sehen, das ist und bleibt außergewöhnlich.
    Das Gute für dich wird sichtbar. Und dennoch…
    Ich wünsch dir verschont zu bleiben von dem Massendingens, bleib gesund.
    LG

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  3. Danke für deine Gelassenheit. Und ich mag es, wie du über die Menschen schreibst, um die du dich kümmerst. Dass du es ganz normal findest, dass manche Menschen gerne verrückte Sachen machen. „Jeder hat das Recht, einen Narren aus sich zu machen.“ ist aus dem Film „Harald and Maude“ und so was wie mein Motto.

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  4. Zu der „normalen“ Verwaltungsabsurdität kommt jetzt noch die Panik, mit der mit Massnahmen um sich gestreut wird. Nichts ist zuende gedacht in Bezug auf Konsequenzen (z. B. Obdachlose, bleibt zuhause). Bezahlen tun immer die Schwachen.

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  5. Vielen Dank für die Info. Ja, auch in Krisen wiehert der Amtsschimmel gewaltig. Dabei dachte man, wenn dem schon so sei, wäre wenigstens alles andere – genügend Schutzkleidung, Masken, Intensivbetten etc. – in Ordnung. Weit gefehlt. Der Staat geht wenn es sein muß auch mit gültiger Verwaltungsstruktur unter. ;-( (Sarkasmus aus!) Bleib gesund, und habe schöne Ostern! LG Michael

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