Lichtschacht mit Vasen und Kunstblumen

Die spinnt wohl

Für eine kurze Zeit in meinem Leben hatte ich eine neue Begleiterin. Sie sah nicht besonders gut aus aber ihre Existenz berührte mich auf eigentümliche Weise. Sie war sozusagen eine Lebensabschnittsgefährtin. Meiner Frau habe ich glaube ich nichts von ihr erzählt. Vermutlich hätte sie sich nur geekelt und von mir verlangt meine neue Bekanntschaft aus unser aller Leben zu verbannen. Näher kennengelernt habe ich sie in meinem Hobbykeller. Wie viele Männer im besten Alter habe ich einen Rückzugsraum für mein Hobby. Es handelt sich nicht etwa um einen Partykeller. Ich bin nicht so einer, der zum Lachen in den Keller geht. Es ist auch keine Fahrradwerkstatt in der ich liebevoll Rennräder tune und poliere. Es gibt hier auch keine Zinnsoldaten mit denen man die Völkerschlacht von Leipzig nachstellen könnte oder komplizierte Modellbausatze von Herkules Transportflugzeugen. Nein. In meinem Hobbykeller stehen sein Schallplattenspieler und zwei Fitnessgeräte. Ich gebe zu, dass sich das nicht wesentlich origineller anhört als die bislang aufgezählten Varianten aber ich habe dort schon viele schöne Stunden verbringen dürfen. Die Quälerei auf der Kraftmaschine, untermalt mit der richtigen Musik, lässt die irdischen Kräfte im erschöpften Körper zurück und gibt dem Geist die Möglichkeit auf wundervolle Reisen zu gehen. Die einzigen Verbindungen zur Außenwelt sind die Zimmertüre und ein Lichtschacht mit einem großen Fenster. Die Zimmertüre öffnet sich schon lange nicht mehr. Ich habe nämlich herausgefunden, dass die restlichen Mitglieder meiner Familie nicht viel von der Quälerei mit Gewichten halten. Ich muss sie nur freundlich zum Mitmachen auffordern und habe anschließend meine Ruhe. Meine Frau ist übrigens der Meinung, dass mein Treiben im Keller äußerst ungesund sein muss. Als Indikator dafür führt sie die gequälten Geräusche an, die ab und an aus meiner Kehle zu dringen scheinen. In der Muckibude ist es halt wie in der Sauna. Am schönsten ist es wenn es vorbei ist. Wenn der Schmerz nachlässt sozusagen. In solch verzückten Momenten lasse ich meinen Blick gerne mal durch den Lichtschacht schweifen. Das Fenster ist wie gesagt schön groß aber der Blick prallt schon nach etwa dreißig Zentimetern gegen eine weiße Plastikverkleidung.
Und da saß sie. Sie thronte auf ihrem Netz und strahlte mit ihren langen haarigen Beinen eine in diesem Lichtschacht nie dagewesene Präsenz aus. So ein prächtiges Stück war mir bislang selten untergekommen. Handtellergroß ist vermutlich etwas übertrieben, aber nicht viel. Einem ersten stalinistischen Impuls folgend besorgte ich ein Einmachglas, um ihre Deportation vorzubereiten. Da wäre ja noch schöner. Das ist mein Lichtschacht und mein unverbaubarer Blick. Als ich das Fenster öffnete verschwand sie binnen Sekunden. Was rede ich, es dauerte höchstens Bruchteile einer Sekunde. Nie hatte ich eine so schnelle Spinne gesehen. Aufgrund diverser Spinnennetze sah ich erst mal von einer Verfolgung ab. Ich postierte das Glas an einem strategisch guten Platz und legte mich auf die Lauer. Das Tier war nicht nur schnell, sondern auch clever. Sie ließ sich nicht so schnell wieder sehen. Zeit genug, um die Platte umzudrehen, ein paar Übungen zu machen und sich über ein Leben in einem Lichtschacht Gedanken zu machen. Der Lichtschacht ist oben mit einem neuen Insektengitter verschlossen. Der Verkäufer hatte hoch und heilig versprochen, dass nie wieder ein Lebewesen meinen Ausblick stören würde. Das war natürlich gelogen. Ich fand zwar keine verendeten Mäuse mehr aber das ein oder andere Kleininsekt verirrte sich schon mal. Mit dem Auftauchen der Riesenspinne fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Die Insekten waren von Jahr zu Jahr größer geworden. Da es für sie kein Weg rein oder raus gab, mussten sie in meinem Lichtschacht geboren und aufgewachsen sein. Sie sind quasi ohne meine Genehmigung immigriert.
Ich war fest entschlossen diesem Treiben Einhalt zu gebieten und die Königin des Lichtschachtbiotops der Freiheit zu übergeben. Ob sie wollte oder nicht. Doch sie war zu schnell und schlau, um mir in die Falle zu gehen. Kurz erwog ich eine Exekution. Das war mir aber dann doch zu nazimäßig. Es blieb mir also nichts anderes übrig als mich mit ihr zu arrangieren. Meine Ausflüge in meinen Hobbykeller waren fortan nicht mehr von Einsamkeit geprägt. Ich versuchte die nötige Empathie für meine neue Mitbewohnerin aufzubringen. Nachdem ich die Niederlage meiner Jagd überwunden hatte überlegte ich, ob es vielleicht einen anderen Weg gab sie davon zu überzeugen, dass die große Welt da draußen viel mehr zu bieten hat als der popelige Lichtschacht. Warum zum Teufel zog sie die Sicherheit ihrer kleinen beschränkten Welt den Möglichkeiten in Freiheit vor? Ok, da draußen lauern eine Menge Gefahren für eine Spinne, selbst wenn es sich um ein solch stattliches Exemplar handelte, aber ging das in ihr kleines Spinnenhirn überhaupt hinein? So vergingen zwischen Schallplattenmusik und Muskelübersäuerung Stunden des Zwiegesprächs. Irgendwann wurde meine neue Freundin dann aber unverschämt. Ich überlegte gerade, ob ich ihr nicht langsam einen Namen geben sollte und studierte mit Interesse ihren Speiseplan, der aus allerlei kleineren Spinnen und anderen lästigen Flatterzeug bestand, als sie mir zu sagen schien: „Du bist doch auch nicht besser als ich. Du sitzt in Deinem gemütlichen kleinen routinierten Leben und ziehst die Sicherheit der Freiheit vor.“ Ich war außer mir. Was bildete sich dieses blöde Vieh eigentlich ein? Dank meines menschlichen Gehirns wusste ich schließlich über die Gefahren der Freiheit Bescheid. Während der nächsten Übungseinheiten würdigte ich den Lichtschacht keines Blickes. Von wegen Routine. Ich hatte in den letzten zwölf Jahren immerhin fünf Kilo Hantelgewicht mehr zu meinen Übungen aufgelegt.
Der stumme Vorwurf blieb und wuchs. Ich hielt es nicht mehr aus und sprach mich mit ihr aus. Ich räumte ein, dass wir beide in unserer kleinen Welt gefangen waren und beide zu schnell und schlau waren, um uns daraus vertreiben zu lassen. Wir beide zogen die Sicherheit einer begrenzten Welt vor und versuchten den Gefahren des ungewissen aus dem Weg zu gehen. Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach. Wobei meine Freundin weder Spatz noch Taube mochte. Nach dieser befreienden Aussprache folgte eine unbeschwerte Zeit auf Augenhöhe. Jegliche Arroganz meiner Seite war gewichen. Ich verfolgte ihre Herrschaft in dem Lichtschacht mit Respekt und auch Sorge. Gab es genug zu fressen für sie oder war ihre Gefräßigkeit schließlich und endlich auch ihr Untergang? Wie der große Wels Wally in einem Offenbacher Weiher. Der sollte gejagt werden bevor er alle kleinen Lebewesen gefressen hätte. Die Offenbacher befürchteten, dass der Raubfisch anschließend des Hungers sterben würde und einen toten Weiher zurückließ. Nach langen hin und her wurde nichts unternommen. So hielt ich es mit meiner Spinne. Im Offenbacher Weher und in meinem Lichtschacht herrscht das freie Spiel der Natur. Heute hat sich meine Freundin nicht blicken lassen. Hat sie den Schritt in die Freiheit gewagt oder ist sie an der Beschränktheit ihrer Welt zugrunde gegangen? Vielleicht konnte sie auch nicht mehr mit ansehen was wir Menschen mit unserem Lichtschacht namens Welt anstellen? Amazonasbrände, Klimawandel, Plastikmeere? Ach Quatsch, das ist nun wirklich zu weit hergeholt.

13 Kommentare zu „Die spinnt wohl“

  1. Wir haben auch eine Spinne im Mülltonnen-Verschlag draußen, eine sehr große. Sie lebt da schon ein paar Jahre. Wenn sie noch lebt, müsste sie 6 Jahre alt sein. Letztes Jahr hab ich sie noch dort gesehen. Ich trau mich gar nicht, die Spinnweben zu entfernen, weil ich mich ein bisschen vor ihr ekle, mit Respekt natürlich, für ihr hohes Alter.

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  2. Mal wieder schön geschrieben, habs gerne gelesen. Eure friedliche Koexistenz wirkt sehr sympathisch. Stimmt es eigentlich, dass lebensmüde Spinnen sich von der Decke in den offenen Mund von Schläfern abseilen, so dass jeder Mensch im Leben durchschnittlich acht Spinnen verschluckt? Nein, stimmt nicht. Die Journalistin Lisa Holst hat diese Behauptung im Jahr 1993 in die Welt gesetzt, um zu beweisen, wie leicht sich solche Märchen verbreiten. Aber was, wenn die Spinne über mir nicht weiß, dass es eine urban legend ist? Ich bin bis zum Hals eingepackt und kann mich nicht bewegen …

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  3. Irgendwann nach einem wirklich zermürbenden Arbeitstag lag ich in der Badewanne und eine ausgesprochen grazile Spinne kam den Wannenrand zu mir herabspaziert.
    Ich war etwas verärgert, weil ich fürchte, mich gleich bewegen zu müssen, wenn ich nicht mein Bad mit einer ertrunkenen Spinne teilen wollte. Doch sie hielt sich umsichtig mit allen acht Beinen an der Emaile fest, beugte sich herab und trank.
    Ein anrührender unvergesslicher Anblick.
    Natalie

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